Zen öffnet die Quelle innerer Kraft
„Kraft“ als solche gibt es in vielen verschiedenen Erscheinungsformen, von außen oder von innen heraus. Der Westen schaut nach außen: Dort gibt es Kräfte, elektromagnetische Wellen, die wir am besten beherrschen. Smartphones sind ein Beispiel. Die atomare Energie ist ebenfalls eine Kraft, von der wir glauben, sie zu beherrschen. Vor Kurzem konnte man lesen, dass wir in der Lage sind, Gravitationswellen nachzuweisen. Und doch ist uns bewusst, dass wir diese drei Energien, die wir kennen, noch nicht verbinden können. Die von Einstein geforderte Formel des einheitlichen Feldes gibt es noch nicht, aber das ist unsere Blickweise, der Blick nach außen.
In Asien jedoch geht der Blick einzig alleine auf die Ebene der Lebensenergie, die vierte Energie, die uns beseelt, die uns am Leben hält, die entscheidet, ob wir über Willenskraft, Gestaltungsmacht verfügen, oder ob wir uns erschöpft fühlen oder energielos. Das erste, was der Osten lehrt, ist, dass alles reine Energie ist, daß wir uns mitten in der Energie, in der inneren Kraft befinden, daß Raum selber diese Energie ist – und wir sind mittendrin.
Das heißt, unsere Ansicht, daß Energie damit zu tun hat, wie wir uns psychisch fühlen, stimmt nur zum Teil. Natürlich ist ein tolles Erlebnis, wie eine Hochzeit oder ein Erfolg, etwas, das uns Kraft und Energie gibt. Natürlich ist als Gegenteil dazu ein Schicksalsschlag, ein schreckliches Ereignis etwas, das uns auf Dauer immer wieder Energie kostet; das ist wahr.
Das eine ist „energiephil“ und das andere „energiephob“, das eine der Energie zugewandt, und das andere kostet viel ‒ aber das sagt nichts über die Quelle der Energie aus. Die Quelle dieser Energie ist der Raum, und der Mensch hat eine Verbindung zu dieser Dimension der Kraft. Dort wo Raum ist, ist Energie. Es ist überall die gleiche Energie, denn sie bildet Raum selbst ‒ und der Mensch hat nicht nur einen Zugang zu dieser Kraft, sondern er ist immer mit ihr verbunden, so lange er lebt. Leben selber ist dadurch ausgezeichnet. Deshalb heißt diese Energie „Lebenskraft“.
Im Zen-Leadership geht es nicht um ‚high and low’ – es geht um die Mitte der inneren Kraft
Die Zen-Übung lehrt zuallererst, zur Quelle innerer Kraft vorzudringen, diese Quelle zu öffnen, diese Quelle erfahrbar zu machen für uns, so tief erfahrbar zu machen, daß wir eine Idee davon bekommen, daß innere Kraft unbedingt ist, daß sie dann auch da ist, wenn wir psychisch am Boden sind, am Ende unserer „Kräfte“. Oder wir so auch lernen, daß Begeisterung und Euphorie über eine lange Zeit genauso Energie kosten kann, und damit für unser Immunsystem durchaus gefährlich ist. Es ist quasi die Mitte der Kraft, um die es hier geht.
Dazu einige weitere Punkte, die sehr wichtig sind für diesen Weg: Das erste ist, die Kraft ist unbegrenzt im Raum, überall, aber der Mensch kann diese innere Kraft nicht unbegrenzt aufnehmen. Deshalb, auch wenn wir im Hara sind, wenn wir das gelernt haben, ist es dennoch wichtig, achtsam mit Energie umzugehen. Es ist möglich, mehr Energie zu verbrauchen als wir aufnehmen, und dann fängt das System an, diese Energie aus dem Körper herauszunehmen. Das heißt, es gilt für uns Menschen, unabhängig von unserem Energieniveau, wenn wir mehr Energie verbrauchen als wir aufnehmen, leidet unser Immunsystem. Wenn wir das sehr lange Zeit machen, dann greifen wir auf eine Quellenenergie zu, die unser Altern bestimmt. Deshalb ist es sehr wichtig für uns, in dieser Mitte zu bleiben.
Manchmal gibt es im Leben Situationen, in denen das nicht geht. Diese Situationen nennt man Krieg oder Krise, sie sind schrecklich und kosten einen Preis. Dies ist sehr tragisch ‒ aber von hundert Situationen sind keine drei so unausweichlich, und die meisten Menschen haben das Glück, dass sie in diesen Zeiten noch nicht mal diese drei erleben werden. Deshalb habt ihr ein Recht, achtsam zu sein mit euch, mit dieser Quelle der Kraft. Niemand verlangt von euch, dass ihr zehn Jahre früher sterbt, dass ihr krank werdet oder chronische Krankheiten bekommt ‒ achtet also auf diese Quelle.
Und Zen ist der Weg, diese Quelle zu öffnen oder zu reaktivieren und zu hüten und aus ihr heilsam, kraftvoll und dynamisch zu handeln.
Yin und Yang ‒ zwei Seiten derselben Kraft
Der zweite Punkt ist, dass diese Kraft zwei verschiedene Ausrichtungen hat: Die eine Dimension ist der Sprint, das ist der Fokus, das Durchbrechen, das Durchschlagen des Gordischen Knotens, Grenzen setzen, Wege öffnen. Die Sitzung, der Investor, das Gespräch, macht er das jetzt oder nicht, auf den Punkt. Norddeutsch: zu Potte kommen, Dinge beginnen und, noch wichtiger – Dinge beenden, vollenden. Fokus, das Wesentliche zu erkennen und zu tun. Dieses ist der Yang-Aspekt der Energie, der Männliche. Das bedeutet, kurz die Energie auf einen Punkt bringen.
Der andere Aspekt ist der Marathon ‒ in der heutigen Zeit sicher der wichtigere Aspekt. Weiblich, die Ausdauer, das Feld der Ausdauer zu halten, eine Vision zu haben und diese Vision mit einer ununterbrochenen Ausdauer mit Energie zu versorgen. Eine Herausforderung zu haben und in dieser kontinuierlich den Weg mit Energie füllen. Unabhängig davon gilt, daß wir beide Aspekte, wenn sie in der Fülle da sind, daran erkennen, daß Freude da ist. Freude einerseits und Energie und Kraft andererseits sind zwei verschiedene Seiten einer Medaille.
Wie bringen wir unsere innere Kraft in Balance?
Dritter Punkt: Zu viel Energie kann genauso destruktiv sein wie zu wenig Energie. Das System des Menschen ist im heilsamen Modus ausgewogen. Wenn ich zu viel Energie in etwas gebe und das auch noch mit äußeren Bedingungen, Verstrickungen emotional verbinde, kann es passieren, dass diese ganze Kraft nach außen geht, und damit fehlt sie für einen Moment in mir. Yin und Yang, Defizit und Zuviel, sind miteinander verbunden, wie eine Welle. Je höher die Welle, umso tiefer das Tal, bis es den Boden des Meeres sichtbar werden lässt. Das ist der Moment, wo es für uns nachhaltig nicht mehr gut ist. Yin Qi, also zu wenig Energie, irgendwo zu haben, gefährdet den Körper, gefährdet unsere Gesundheit, gefährdet unsere Psyche, führt bis zur Depression. Es ist nicht die Ursache, aber es verstärkt die Symptomatik. Zu viel Energie ist Druck, Explosion, und das auch wiederum Zerstörung, unangemessenes Handeln, getriebenes, rastloses Sein, am Ziel vorbeilaufend, an unserer Bestimmung vorbeilaufend. Auf körperlicher Ebene eher eine Implosion, und löst damit Krankheiten aus, die langfristig wirken und bedrohlich bleiben. Energiestau, Energiemangel sind nicht heilsam. In der Mitte liegt die Kraft. Das ist also unser Ziel.
Innere Kraft und deren Entwicklung im Zen Leadership ist ein heilsamer Weg
Heute gibt es allgegenwärtig das übermäßig durchgeknallt, wahnsinnig plappernd lärmende Sinnentleerte, was unsere Zeit propagiert, wenn wir den Fernseher anschalten. Vor 20 Jahren, da haben Profikameraleute ruhige Schnitte gemacht, und haben uns, wenn ein Interview zwischen zwei Politikern zu sehen war, einen ruhigen Rahmen gezeigt, der verständlich war. Heute folgt alles immer kürzeren Schnitten, alles ist schneller, immer schneller, Schnitt, und die Menschen denken, sie müssen so sein. Die Jungen denken, sie müssen so sein und sie können so sein. Früher bekam man mit 50 einen Burnout, heute mit 30, als ob das ein Fortschritt wäre. Diese Zeit ist nicht heilsam, was das Thema angeht, keine Zeit war so irre, was das Thema Energiemitte anging. So wird jedem Menschen das Recht auf die Kraftmitte genommen, und zerstört so, nicht nur psychisch, sondern auch physisch, viele Existenzen, in diesem durchgeknallten Irrsinn des Sich-selbst-Überholens.
Damit muss ich natürlich die innere Kraft zuerst einmal dazu benutzen, innere Kraft in mir weiter zu erhalten. Mich zu schützen, intelligent „Nein“ zu sagen. Grenze setzen, abgrenzen vom Unheilsamen, die innere Kraft des Yang. Und einen heilsamen Weg suchen, entwickeln und in der Welt nachhaltig mit Ausdauer verwirklichen, die innere Kraft des Yin. Finden wir uns in einer Offensive, die länger dauert, müssen wir uns um die Logistik kümmern. Innere Kraft und Kraftquelle bedeutet, auch zu verstehen, dass ich das Recht habe, diese Quelle dauerhaft zu erhalten für mich. Denn nur so können wir uns und daraus anderen dienen. Deshalb steht im Zen das Thema innere Kraft und Energie an erster Stelle. Auf Japanisch „Hara“, auf Deutsch die „Erdmitte“ des Menschen. Unter dem Bauchnabel liegt dieses Zentrum, und wir lernen durch verschiedene Übungen, je nach Karma, je nach Veranlagung, je nach Begabung, je nach Situation verschiedene Übungen, diese Kraft für uns dauerhaft als Flamme, als Quelle, zu öffnen ‒ nicht zu viel, nicht zu wenig, mal für einen Sprint, fokussiert, mal für einen Marathon, in tiefer, dauernder Kraft. Jeder Mensch hat diese Quelle. Hütet sie wohl, denn sie ist die Quelle unserer Lebenskraft, ist Freude, Willens- und Schöpfungskraft!
Zen-Meister Hinnerk Syobu Polenski
im Dialog mit Teilnehmern im Zen-Leadership-Seminar